Hut ab Herr Reichwein

Der beste Bericht
und die beste Analyse
die ich bisher in den deutschen Medien gelesen habe.
"Hut ab Herr Alexander Reichwein, T-Online.de"

Russland und die Ukraine streiten um die Krim – und man hätte es wissen können. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer von der Universität Chicago hat einen russisch-ukrainischen Konflikt vorhergesagt - und das schon vor mehr als 20 Jahren.

In seinem realistischen Verständnis internationaler Politik ist das, was Russland jetzt tut, logisch und einfach zu erklären. Und nur darum geht es Realisten wie Mearsheimer: um nüchterne Analyse und rationale Erklärungen - und darum, vor einer unklugen Außenpolitik zu warnen und die richtige zu skizzieren. Das muss politisch nicht immer wünschenswert und moralisch (im westlichen Verständnis) sein. Und auch die völkerrechtlichen Fragen bleiben dabei außen vor.

Aus Mearsheimers Perspektive kann argumentier werden: Beim Konflikt um die Krim geht es um die nationalen Interessen Russlands, um Sicherheit und um die regionale Vorherrschaft. Und es geht um Fehler des Westens im Umgang mit beiden Staaten in der Vergangenheit, die sich in der Zukunft nicht wiederholen sollten, will man eine stabile Ordnung jenseits der EU-Grenzen in Osteuropa etablieren - bei der sich über Fragen von Moral, Recht und Gerechtigkeit trefflich streiten lässt.

Sicherheit der russischen Bevölkerung
Was ist passiert: Nachdem es in Kiew zu einem Umsturz gekommen ist und Ex-Präsident Viktor Janukowitsch das Zepter aus der Hand geben musste, sei die Sicherheit der russischen Bevölkerung in der Ukraine nicht mehr gewährleistet. Das ist die Haltung in Moskau, dem überdies ein Verbündeter abhanden gekommen ist. Mit der Entmachtung Janukowitschs ist ein Machtvakuum und eine gewisse Unordnung in der Ukraine entstanden. Daran ändern auch die Regierungsübernahme von Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk und geplante Neuwahlen nichts.

Moskau argumentiert, die zuständigen staatlichen Stellen würden für die Sicherheit der russischen Minderheiten auf der Krim und in der Ost-Ukraine nicht mehr sorgen können oder nicht mehr sorgen wollen. Russland, daran lässt Präsident Wladimir Putin keinen Zweifel, ist deswegen bereit, Russen im benachbarten Ausland zu Hilfe zu eilen, wenn nötig auch militärisch: aus "Verantwortung für das Leben seiner Landsleute“, wie es offiziell heißt.

Im Westen hat ein solches Verantwortungs-Argument im Übrigen schon in Fällen, in denen die intervenierenden Staaten gar keine eigenen Landsleute schützen mussten sondern Fremde glaubten schützen zu müssen, als legitim genug gegolten um damit eine völkerrechtswidrige Intervention ohne Mandat des UN-Sicherheitsrat als moralisch gerechtfertigt zu erklären.
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Szenario bereits vor mehr als 20 Jahren vorhergesagt
Das ganze Szenario liest sich wie ein Paradebeispiel für eine militärisch untermauerte Machtpolitik von Staaten, die sich als Konkurrenten ansehen. Der Experte für internationale Sicherheitspolitik, John Mearsheimer, hat bereits vor mehr als zwanzig Jahren in zwei Aufsätzen (“Back to the Future: Instability in Europe after the Cold War“ 1991 und „The Case for a Ukrainian Nuclear Deterrent“ 1993) einen russisch-ukrainischen Konflikt vorhergesagt. Dahinter steht ein ganz bestimmtes Verständnis internationaler Politik.

Mearsheimer vertritt den sogenannten realistischen Denkansatz in der Lehre der Internationalen Beziehungen. Dem liegen einige konkrete Annahmen zugrunde. Erstens unterstellt Mearsheimer allen Staaten ein unüberwindbares Streben nach Sicherheit und Macht in Form regionaler Hegemonie.

Zweitens: Da es keine übergeordnete Instanz gäbe (auch nicht die Uno), welche die Staaten zu einem friedlichen und völkerrechtskonformen Verhalten zwingen und aggressives Verhalten sanktionieren könnte, müssten die Staaten jeweils für ihre eigene Sicherheit sorgen. Dazu griffen sie auf rationale Strategien der Selbsthilfe zurück.

Staaten versuchen laut Mearsheimer zum einen stets, ihre militärischen und ökonomischen Machtmittel zu mehren. Zu diesen zählen Nuklearwaffen oder eine starke konventionelle Armee, Landmasse und Bevölkerungszahl sowie die Kontrolle strategisch wichtiger Punkte in der unmittelbaren Umgebung. Zum anderen versuchten Staaten wenn möglich, sich territorial auszudehnen und die Kontrolle über Bodenschätze und andere wirtschaftliche Ressourcen zu haben.

Drittens: Je mehr Macht ein Staat hat und je größer er ist, so die manchmal sehr einfache realistische Formel, desto sicherer kann er sich im durch Krisen und Konflikte geprägten internationalen System fühlen. Mehr Macht bedeutet in dieser Logik also auch mehr Sicherheit.

Viertens: Der Kalte Krieg war für Mearsheimer vergleichsweise stabil. Zwei Machtblöcke, die militärisch in etwa gleich stark waren und ihren jeweiligen Einflussbereich kontrollierten, hielten sich im Wissen um die nukleare Zweitschlags-Kapazität des Gegners wechselseitig in Schach, ohne dabei eine direkte militärische Konfrontation zu riskieren. Die nukleare Abschreckung funktionierte trotz unüberwindbarer ideologischer Differenzen, weil alle das Spiel mit dem Feuer mieden.

Nach dem Ende des Kalten Krieges hatte Mearsheimer - wie sich heute herausstellt prophetisch - vor den Folgen einer neuen Konstellation in Europa gewarnt: Seit dem Rückzug der USA und dem Zerfall der Sowjetunion konkurrieren laut Mearsheimer mehrere mächtiger gewordene Staaten um die regionale Vormachtstellung: Deutschland, Großbritannien und Frankreich im Westen, Russland und die Ukraine im Osten. Diese neue multipolare Ordnung birgt insbesondere in Südosteuropa Konflikte.

Hinzu komme, so Mearsheimer damals, ein neuer Hypernationalismus in vielen ehemaligen Republiken der Sowjetunion und Jugoslawiens, der sich entladen würde. Diese neue alte instabile Struktur in Europa verglich der Politikwissenschaftler mit der Konstellation vor den Kriegsausbrüchen 1914 und 1939. Die im Sommer 1991 ausgebrochenen Balkankriege sollten ihn und seine Befürchtungen sehr schnell bestätigen.

Den Trumpf, über Atomwaffen zu verfügen und ein Mächtegleichgewicht zwischen sich und Russland herzustellen, dürfe die Ukraine deswegen nie aus der Hand gegeben, forderte Mearsheimer damals. Freilich sollte die Ukraine ihre Waffen unter Kontrolle der IAEO stellen und sich verpflichten, diese nicht weiterzugeben. Aber genau das ist anschließend geschehen. Und darin sah Mearsheimer jenen großen Fehler, der auch vom Westen mit zu verantworten sei. Dieser habe die Ukraine zur Abgabe der Atomwaffen gedrängt und sich auf Seiten Russlands (denen man einen Verzicht auf Atomwaffen wissentlich nie hätte abringen können) positioniert.
Bereitschaft zur militärischen Auseinandersetzung

Fünftens, und das ist im Blick auf die jetzige Krim-Krise der entscheidende Punkt: Staaten, so argumentierte Mearsheimer, seien unter bestimmten Bedingungen durchaus zu einer regional begrenzten und konventionell ausgetragenen militärischen Auseinandersetzung bereit. Und zwar dann, wenn vitale nationale Interessen auf dem Spiel stehen, wenn es etwas zu gewinnen gibt und die Aussicht auf Erfolg besteht – und wenn der Gegner als schwach eingestuft wird.

Das schließt Fehlkalkulationen nicht aus: 
Mearsheimer erinnerte auch im Zusammenhang mit seiner Kritik am amerikanischen Irakkrieg (2003) daran, dass sich Saddam Hussein in den 1980er Jahren schlicht verschätzt hatte, als er den Iran in dem Glauben angriff, das Land sei nach der Abdankung des Schah und der Rückkehr des Ajatollah Khomeini aus dem Pariser Exil geschwächt.

Der Erste Golfkrieg (1980 bis 1988) mit schätzungsweise einer Million Opfer, bei dem es um nichts anderes als die regionale Vormachtstellung am Persischen Golf und die Kontrolle der Erdölfelder ging, zog sich dann über acht Jahre ohne Sieger hin. Daraus aber, so Mearsheimer, habe Saddam gelernt und künftig von regionalen Kriegen abgesehen. Ganz im Gegenteil stellte der Irak unter seinem Diktator in realistischer Perspektive einen Stabilitätsfaktor für ein Mächtegleichgewicht zwischen sich, Israel und dem Iran dar.

Deswegen erachtete Mearsheimer auch den Waffengang der USA im Irak und die Beseitigung des Saddam-Regimes als strategisch unklug und vollkommen unnötig ("An Unnecessary War", 2003). 
Eine solche Haltung mag angesichts der Verbrechen Saddams gegen die Kurden und Schiiten im eigenen Land unmoralisch sein. 
Für Realisten geht es aber um die Verhinderung des größeren Übels. Und das ist ein erneuter Krieg im Mittleren Osten zwischen den Regionalmächten.

Der Westen als ehrlicher und weitsichtiger Makler - kluge Außenpolitik
Und der Westen? 
Der sollte - aus realistischer Perspektive - seine scharfe Rhetorik und seine Sanktionen gegen Russland, die mittlerweile bis zur angedrohten Suspendierung aus der G8 reichen, dringend unterlassen. 
Allen voran die USA und Deutschland zerschlagen derzeit sehr viel Porzellan, und das Verhältnis zu Russland wird in der Folge nicht mehr so leicht zu kitten sein. 
Dabei müssten gerade Washington und Berlin aus der Irakkrise gelernt haben, wie man diplomatisch angemessen miteinander umgeht.

Und wie weit wird der Westen nach Einreiseverboten, Wirtschaftssanktionen und Suspendierungen überhaupt gehen? 
Streng genommen kann man die Intervention Russlands auf der Krim als ein Bündnisfall interpretieren. 
Die Ukraine hat seit 1997 ein militärisches Partnerschaftsabkommen mit der Nato. 

Aber ist das Bündnis wirklich dazu bereit, einen Krieg gegen die Atommacht Russland zu führen. 
Frankreich und Großbritannien verhalten sich in der Krim-Krise bisher übrigens auffallend zurückhaltend. Wie konsequent und glaubwürdig ist eine westliche Politik, die sich in eine Einbahnstraße manövriert, aus der es, realistisch betrachtet und hoffentlich, nur einen Rückwärtsgang des Zurückruderns geben kann und wird.

Die westlichen Staaten sollten vielmehr die Entwicklung auf der Krim, in der Ukraine und in den anderen Staaten beobachten und als ehrlicher Makler auftreten, anstatt einseitig Position zu beziehen. Die vollzogene Ost-Erweiterung der Nato bis an die Grenze Russlands war und ist problematisch genug und bedarf künftig der diplomatischen Weitsicht im Umgang mit Moskau. Und es bedarf der genauen Überlegung, wie mit den eventuellen Beitrittsgesuchen der neuen ukrainischen Führung umgegangen wird.

Ob die Ukraine nur EU-Mitglied oder auch Nato-Mitglied wird, wird die Zukunft weisen. 
Waffenlieferungen und Militärhilfe an die Ukraine sowie ein Handelskrieg mit Russland sind jedenfalls kontraproduktiv und konterkarieren westliche Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen in der Region. 
Eine kluge und rationale Außenpolitik, die machtpolitische Notwendigkeiten, verlässliche Diplomatie und Empathie für die Interessen Russlands und der Ukraine auszeichnet, ist künftig gefragt - und das nicht nur aus realistischer Perspektive.

Nach dem Referendum ist vor dem Referendum. 
Auf der Krim steht neben der Sicherheit und Wohlfahrt auch die Glaubwürdigkeit aller beteiligten Akteure auf dem Spiel. 
Der Westen sollte nicht ein weiteres Mal Fehler im Umgang mit beiden Staaten, die sich als Regionalmächte oder gar mehr verstehen, machen. 
Die verantwortlichen Politiker wissen, wo sie nachlesen können.







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